Alltgasgeschichten von besonderen Momenten

Engel im Alltag

Die Engel im Alltag sind ein Projekt von Kurzgeschichten, an dem ich fortlaufend arbeite. Den Geschichten ist gemeinsam, dass sie alle einen wahren Kern von Nächstenliebe haben. Ein kurzer Alltagsmoment, in dem mir jemand – manchmal ein Fremder, manchmal ein Freund oder Verwandter – überraschend etwas Gutes getan hat, was ich gerne festhalten wollte und zu einer Geschichte ausgeschmückt habe. Manche Geschichten wurden mir auch erzählt und ich habe sie in Worte gekleidet, um sie so mit anderen zu teilen. Denn ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir das Gute und die Freundlichkeit im Alltag sichtbar machen, um sie nicht zu übersehen. Ein paar meiner Engel könnt Ihr hier entdecken.

Viel Spaß beim Stöbern!

Eure Ina Frosch

Regenschirm

Als ich bei der Bushaltestelle ankomme, sehe ich gerade noch die Rücklichter des abfahrenden Busses. Fassungslos blicke ich ihm hinterher. Ausgerechnet heute muss ich den Bus verpassen. Gerade beginnt es zu regnen und natürlich ist die Bushaltestelle nicht überdacht. Ein Blick in meine Tasche bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen: mein Regenschirm liegt mal wieder zu Hause. Ich habe eigentlich selten einen Schirm dabei. Meistens vergesse ich, ihn einzupacken und wenn ich doch mal daran denke, ihn mitzunehmen, ist die Gefahr groß, dass ich ihn irgendwo verliere und dann wieder keinen habe. Normalerweise macht mir der Regen auch nicht besonders viel aus. Aber heute ist es ziemlich kalt und inzwischen ist der Regen so dicht, dass ich in wenigen Minuten völlig durchnässt sein werde. Sicher werde ich krank werden. Noch dazu war heute sowieso schon so ein anstrengender Tag. Nach einem langen Schultag musste ich noch einkaufen, weswegen ich meine Fahrt hier unterbrochen habe. Nun spüre ich das Gewicht meiner Schultasche auf dem Rücken, die durch das Gewicht der Lebensmittel zusätzlich beschwert ist und komme mir vor wie ein begossener Pudel. Wie gerne wäre ich jetzt schon zu Hause und würde mich mit einer heißen Tasse Tee in mein Bett kuscheln oder ein heißes Bad nehmen!

Als mir ein Wassertropfen ins Auge läuft, drehe ich meinen Kopf ein Stück zur Seite und sehe eine betagte kleine Dame auf mich zu kommen. Ihr Haar ist schneeweiß, sie geht ein bisschen gekrümmt und ihre Kleidung ist passend zum Wetter farblos grau. Aber in ihren kleinen, faltigen Händen hält sie einen riesigen knallroten Regenschirm, ein Farbklecks in diesem allumfassenden Grau. Der Regenschirm wirkt zu groß und schwer für die alte Lady, sie umklammert ihn mit beiden Händen und würde locker zweimal drunter passen. Aber sie ist sicher froh, ihn zu haben. Ich bin ein bisschen neidisch, schelte mich aber sofort, dass es meine eigene Schuld ist, keinen Schirm dabei zu haben.Doch die alte Dame mit dem Schirm ist inzwischen bei mir angekommen und fängt sofort an, mit mir zu schimpfen: „Kindchen, haben sie denn keinen Regenschirm? Sie werden ja ganz nass!“, sagt sie in einem mahnenden Ton.

Ich überlege, ob ich etwas antworten soll. Zuerst will ich etwas Patziges sagen, empfinde das jedoch sofort als unpassend. Und bevor ich auch nur meinen Mund öffnen kann, schiebt die Lady den Schirm noch ein Stück in meine Richtung.

„Na komm, der Schirm ist groß genug für uns beide“, sagt sie und lächelt mich an.

Und so stehen wir beide unter dem großen, knallroten Regenschirm. Weil die Dame so klein ist, muss ich mich etwas bücken, aber das macht nichts. Hauptsache, ich bleibe weitgehend trocken. Während ich dem Regen zusehe, wie er die Straße in eine einzige Pfütze verwandelt, scheint in meinem Herzen die Sonne.