Ein Esel packt aus – Geschichte eines Esels

© Ina Frosch / Dezember 2020

Ich bin ein alter Esel, habe in meinem Leben schon viel gesehen und gehört. Und Lasten habe ich getragen, das könnt Ihr Euch gar nicht vorstellen!Manche Halter sind unangenehm.

Sie schlagen uns und pieksen uns mit Stöcken, wenn wir nicht schnell genug laufen. Freundliche Halter gibt es nicht viele, aber was soll ich sagen? Ich bin nunmal ein Lasttier. Die Menschen bünden mir ihre Lasten auf. Physische Lasten, aber oft genug auch seelische. Ihre Sorgen und Ihren Kummer. Aber da war diese eine Halterin, die ich wohl niemals vergessen werde. Ein ganz junges Mädchen noch, aber hochschwanger.

Mein Gott, habe ich gedacht. Das war sicher nicht geplant.

Ihr Mann kam in den Mietstall, in dem ich damals stand und verlangte nach dem kräftigsten Tier. Mir graute es gleich, als ich das hörte.

Bestimmt ein furchtbar anstrengender Job, dachte ich. Wenn ein Kerl wie der in seinen abgewetzten Kleidern und dem löchrigen Mantel nach einem kräftigen Tier verlangt, muss es ein wirklich harter Job sein.

Aber so hart wie der Job dann gar nicht.

Im Gegenteil: es war sogar eine der schönsten Zeiten, die ich je hatte.

Meine Aufgabe bestand darin, die junge Frau auf einer Reise mit mehreren Stunden Laufzeit zu tragen. Klar, eine hochschwangere Frau ist schwer, selbst wenn sie noch so jung und ansonsten zierlich ist. Aber Maria, so hieß die junge Frau, war sehr freundlich. Sie schlug mich nie, trat nicht mal nach mir, um mich zur Eile anzuhalten, und sie sorgte immer dafür, dass ich genug zu trinken und zu essen bekam.Unterwegs ist das immer ein bisschen schwierig, da muss ich fressen, was am Wegesrand wächst. Aber selten hat ein Halter so darauf geachtet, dass die Pausen lang genug sind, dass auch ich Zeit habe, etwas zu fressen.

Und dann kamen wir in ein kleines Dorf. Das junge Paar führte mich in einen Stall, in dem es mehr Heu gab, als ich überhaupt fressen konnte. Ich musste es mir mit einem alten Ochsen teilen, aber er rückte sehr freundlich zur Seite und bot mir sogar einen Platz zum Schlafen an.

Nach so einer langen Reise nutze ich jede Gelegenheit, ein paar Stunden zu schlafen. Man weiß ja nie, wann die Halter beschließen, weiterzureisen. Manche Halter brechen auf, sobald die ersten hellen Streifen am Himmel zu sehen sind.

Als ich wieder aufwachte, dachte ich erst, es wäre schon mitten am Tag. Denn durch das Fenster des Stalls fiel ein helles Licht herein. Aber es war wohl nur ein einzelner Stern, der direkt über dem Stall stand.Das findet Ihr komisch? Das war noch gar nichts!Als ich mich zu dem Paar, mit dem ich gekommen war, umdrehte, stellte ich fest, dass sie nicht mehr nur zu zweit waren. Maria hatte ein winziges Baby im Arm. Offenbar hatte sie es, während ich geschlafen hatte, geboren – mitten im Stall! Ich verstehe bis heute nicht, wie ich so etwas lautes und aufregendes wie eine Geburt verschlafen konnte.

Aber es gab noch mehr seltsames zu bestaunen.

Um die junge Familie herum standen und saßen lauter bärtige Männer. Manche von ihnen trugen Hirtenstäbe oder hatten typische Hirtenhüte in den Händen und jeder hatte mindestens ein oder zwei Schafe bei sich. Und alle diese Männer sahen das Baby an, als wäre es das größte Wunder, das sie je gesehen hätten.

Mit den ganzen Schafen war es auf einmal ganz schön eng im Stall, aber es wurde sogar noch enger. Es kamen noch drei reiche Adelige – man konnte gleich sehen, dass die ganz bestimmt nicht hierher gehörten. In einen winzigen Stall in

einer winzigen Stadt.

Die Adeligen waren prächtig gekleidet und sie brachten Geschenke mit. Aber nicht so welche, mit denen Babys gerne spielen oder die man ihnen anziehen kann. Die Geschenke waren wohl eher für die Eltern.

Irgendwann gingen einige nach draußen und ich beschloss, noch eine Weile zu schlafen, obwohl das helle Licht immer noch über dem Stall stand. Das war wirklich eine seltsame Nacht.

Leider verließen mich meine Halter kurz darauf. Sie übergaben mich einem Mann im Dorf, bei dem ich bis zu seinem Tod blieb. Ich kann mich nicht beklagen, der Mann hat mich immer gut behandelt und auch seine Tochter, bei der ich nun lebe, ist sehr nett zu mir.Aber manchmal in besonders kalten Nächten oder wenn ein Stern vom Himmel fällt, denke ich an das junge Mädchen Maria, das so voller Liebe und Herzenswärme war. Und an das Baby, das etwas ganz besonderes ausstrahlte, auch wenn ich nie herausgefunden habe, was es war.

Ende