Schneewunder

© Ina Frosch / Dezember 2020

In der Weihnachtswerkstatt herrscht helle Aufregung. Immer mehr Engel strömen in den großen Versammlungsraum, dabei ist der Dezember noch nicht angebrochen und die meisten Engel sollten noch gar nicht hier sein.

„Weißt Du, was los ist?“, fragt Clara ihre Freundin Annabell.

Flüsternd antwortet die: „Der Chef hat alle zusammengerufen. Es gibt wohl was zu besprechen.“

„Am 15. November?“, hakt Clara nach. „Sogar die Festengel? Die trudeln doch sonst erst Mitte Dezember ein!“

„Tja, muss wohl wichtig sein“, kann Annabell gerade noch sagen, dann erhebt der Chef seine brummige Stimme und bittet um Ruhe.

„Danke, dass Ihr alle gekommen seid!“, beginnt er. „Mir ist klar, dass einige von Euch ihren Jahresurlaub früher abbrechen mussten und in aller Eile angereist sind, aber es ist wirklich wichtig. Die Weihnachtsstimmung in der Welt liegt bei 10%. So niedrig war sie zuletzt zur Zeit der Weltkriege. Die Pandemie hält die Menschen in Griff. Sie haben Angst davor, ihre Verwandten zu besuchen und Angst, dass man es ihnen verbietet. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich die Weihnachtsstimmung in der Welt wieder verbreitet. Ich will, dass sie bis Weihnachten bei mindestens 30% liegt.“

Der letzte Satz hallt durch den großen Raum. Während der Chef geredet hat, hat sich unter den Weihnachtsengeln eine große, allumfassende Stille ausgebreitet. Jeder im Raum hat gespannt gelauscht und an den Lippen des Chefs gehangen. Nun beginnen die Engel miteinander zu tuscheln und Ideen auszutauschen, wie man die Weihnachtsstimmung heben könnte.

„Bitte teilt Eure Vorschläge doch mit allen“, ruft der Chef über den Lärm hinweg.

Zögerlich hebt ein junger Engel die Hand.

„Wir könnten Nahrungspakete in den ärmeren Ländern verteilen“, schlägt er vor.

Ein anderer Engel fragt, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, die Pandemie zu besiegen.

Nach und nach werden weitere Vorschläge gemacht, doch der Chef schüttelt nur immer wieder den Kopf.

„Ihr wisst, dass wir nicht aktiv in die Welt eingreifen dürfen. Nahrungspakete und Geschenke funktionieren daher leider nicht. Aber niemand hat was dagegen, wenn wir uns unter die Menschen mischen und ihnen bei ihren Tätigkeiten zur Hand gehen. Ich werde einige von Euch zu den Lieferdiensten schicken, dass sie beim Ausliefern der Pakete helfen. Nur das reicht noch nicht. Wir brauchen noch etwas größeres. Denkt mal nach, was in unseren Möglichkeiten liegt.“

Da springt ein kleiner Engel auf, der erst seit ganz kurzem ein Weihnachtsengel ist, und ruft: „Schnee!“

Erklärend fügt er hinzu: „Die Menschen lieben Schnee. Jedes Jahr wünschen sie sich weiße Weihnachten. Der Anblick von Schnee wird sie bestimmt in Weihnachtsstimmung bringen.“

Der Chef überlegt kurz, dann nickt er.

„Das könnte funktionieren. Aber dafür brauchen wir die Hilfe der Wetterengel. Marcy“, er sieht sich im Raum um, bis er den Engel entdeckt. „Sprich Du mit den Wetterengeln. Und Leonor“, wieder lässt der Chef seinen Blick über die Köpfe der Engel schweifen, „Du teilst die Gebiete ein, in denen es schneien soll und suchst Engel aus, die den Schnee dort ausbreiten.“

Der Chef verteilt noch einige andere Aufgaben und schon bald herrscht in der Weihnachtswerkstatt ein hektisches Treiben wie sonst nur in den letzten Tagen vor dem Fest.


Einige Nächte später beginnt der Advent. Mitten in der Nacht schlafen die Menschen und so sehen nur wenige die ersten glitzernd-weißen Schneeflocken fallen. Als die Welt am nächsten Morgen erwacht, sind bereits Häuser und Straßen unter einer dichten weißen Decke verborgen. Und die ganze Welt sieht aus wie ein weihnachtliches Winterdorf.